aus "Bremen und seine Stadtteile", Edition Temmen
Noch vor ein paar Jahren hätte es über Borgfeld so gut wie nichts zu berichten gegeben. Im Stadtteil an der Wümme stand die Zeit still. So abgeschieden, so geborgen, harmonisch und friedlich lebten seine Menschen dort zwischen Deich und fruchtbaren Feldern zusammen, dass sie gar nicht auf den Gedanken kamen, sie könnten von außen belästigt werden.
Doch plötzlich wollte sich Bremen auf Borgfelds Äckern einwohnermäßig vergrößern. Es war ausgerechnet "unsere wunderbare Lebensqualität", wie der Ortsamtsleiter schwärmt, die Begehrlichkeiten weckte. Die Hansestadt, die unter Einwohnerschwund leidet, suchte attraktive Siedlungsflächen für Neubürger und wurde in Borgfeld fündig. Inzwischen ist das Baugebiet Borgfeld Ost mit knapp 400 Wohneinheiten fast fertig und in Borgfeld West die Buddelei in vollem Schwung. Aus nacktem Ackerboden wuchsen die ersten attraktiven Eigenheime. Geplant sind rund 850 Wohneinheiten; insgesamt nehmen beide Neubaugebiete eine Fläche von rund 85 Hektar ein.
"Die Einwohnerzahl von Borgfeld wird sich in den nächsten zehn Jahren von jetzt rund 6000 auf etwa 8000 erhöhen", ist sich die Beiratssprecherin sicher. "Und das bedeutet: viel Arbeit!" Die gesamte Infrastruktur werde sich anpassen müssen. Geplant sind beispielsweise die Erweiterung der bestehenden Grundschule und der Bau eines Kindertagesheims, eines Jugendzentrums, einer weiteren Grundschule, einer Sporthalle und eines Seniorenheims im Neubaugebiet West. Und als ob das an Umwälzungen im idyllischen Dorf noch nicht reichte, rollte Ende 2002 auch noch die Straßenbahnlinie 4 an. Auch sie, die an der Grenze zu Lilienthal endet, findet nicht viel Zustimmung im Dorf. Vermutlich wäre den meisten motorisierten Borgfeldern eine Entlastungsstraße von Lilienthal durch das Hollerland bis zum Autobahnanschluss Horn lieber gewesen. Die endgültige Entscheidung darüber soll aber erst getroffen werden, wenn gesicherte Erfahrungen mit der verlängerten Linie 4 vorliegen.
Dass Borgfeld einst von der Landwirtschaft geprägt wurde und heute zum Teil noch wird, weiß in Bremen fast jedes Kind. Schließlich ist der Stadtteil eng mit dem Namen des ersten großen bremischen Nachkriegsbürgermeisters Wilhelm Kaisen verbunden, und der beackerte zu Lebzeiten seine Scholle am Reethfeldsfleet. 1933 hatte er die Siedlerstelle erworben, bis zu seinem Tod 1979 lebte er dort mit seiner Familie und genoss die Arbeit als Bauer vor allem, nachdem er 1965 das Bürgermeisteramt abgegeben hatte. Seit dem Jahr 2001 öffnet sich die Scheune auf dem Kaisen´schen Anwesen für interessiertes Publikum. In dieser Scheune, die Wilhelm Kaisen, der gelernte Stukkateur, selbst entworfen und gebaut hatte, wurde eine Dokumentationsstätte eingerichtet. Gezeigt wird in Text und Bild das Leben eines außergewöhnlichen Mannes, der Bremen in die Demokratie führte und auch den Wiederaufbau der Stadt mitgestaltete. Im Mittelpunkt der Scheune steht Kaisens Schreibtisch, an dem er einst im Rathaus saß, seine Zigarren liegen bereit und ebenso die Ehrenbürgerbriefe der Städte Bremen und Bremerhaven und die Korrespondenz, die er mit den Großen seiner Zeit, beispielsweise mit Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Willy Brandt, Herbert Wehner und Kurt Schumacher, führte. Außer der Gedächtnisstätte ist Ende 1997 das Kaisen-Stift eröffnet worden. Dort finden 24 geistig und mehrfach behinderte Kinder Platz und Betreuung.
Im Spagat zwischen bäuerlicher Tradition und städtischer Erweiterung gibt sich der Beirat trutzig: "Wir wollen den dörflichen und ländlichen Charakter Borgfelds erhalten." Dazu gehören die Pflege der herrlichen Naturschutzgebiete an der Wümme und Unterstützung für die Landwirte. Sie brauchen neue Ausgleichsflächen für die verloren gegangenen Äcker in Ost und West.
Die Alteingesessenen tun ein Übriges: Damit Borgfelds Geschichte im neuzeitlichen Trubel nicht untergeht, gibt es im alten Spritzenhaus ein Stadtteil-Archiv, das ständig erweitert und aktualisiert wird.